Beethovens 32 Klaviersonaten

gehören zu den bedeutendsten Werken der Klavierliteratur. Ludwig van Beethoven (1770 – 1827) gilt als der meistgespielte klassische Komponist der Welt, seine Werke zählen zum kulturellen Erbe der Menschheit (bthvn2020.de). Beethovens Klaviersonaten haben die gesamte musikalische Welt ab 1800 grundlegend verändert und prägen sie bis heute. Stücke wie Opus 106 sind selbst der heutigen Zeit immer noch voraus. Viele tragen Beinamen, die auch über die klassische Musikszene hinaus geläufig sind: Pathétique, Mondscheinsonate, Sturmsonate, Waldsteinsonate, Appassionata oder Hammerklaviersonate.

Schon die ersten Takte seiner ersten Klaviersonate Opus 2 Nr. 1 in f-moll (1795) machen sich energisch bemerkbar mit einer aufsteigenden „Mannheimer Rakete“, als wollten sie sagen: Es geht los, macht euch auf etwas gefasst!

Und bereits im vierten Satz – Prestissimo (schnellstmöglich) – reicht die Klaviatur der damaligen Instrumente nicht mehr aus, um die schiere Explosion an Ideen, Energie, Schaffensdrang, Genie und Wahnsinn aufnehmen zu können:

Der rot umrandete Ton – das dreigestrichene f in der rechten Hand – entspricht dem höchsten Ton auf der Klaviatur im Foto oben. Dieses Tafelklavier aus der Sammlung des Beethoven-Haus Bonn (beethoven.de) stammt aus der Jugendzeit Beethovens 1785-1795 und gehörte wahrscheinlich einer wohlhabenden bürgerlichen Familie in Beuel. Takt 18-21 „hackt“ geradezu wütend auf diesem f“‘ herum, in fortissimo (sehr laut) und mit sforzati (plötzlich verstärkt), als wollte Beethoven sagen: zu wenig Platz, die Grenzen sind zu eng!

Bereits Beethovens dritte Klaviersonate Opus 2 Nr. 3 in C-Dur sprengt den damaligen wie auch den heutigen Rahmen. Es handelt sich hierbei eigentlich nicht mehr um ein Klavierstück, sondern vielmehr um ein Klavierkonzert, bei dem das Klavier auch den Orchesterpart übernimmt. So etwas hat es damals nicht gegeben und gibt es bis heute nicht wieder. Nebenbei bemerkt ist schon der erste Takt technisch für Laien nicht spielbar – ein häufig auftretendes Phänomen und eine bittere Pille für alle Beethoven-Interpreten: sehr schwer zu spielen und sehr viel zu üben!

So gehört beispielsweise Beethovens Hammerklaviersonate Opus 106 zu den technisch schwierigsten und geistig anspruchvollsten Klavierwerken aller Zeiten (br-klassik.de). Sie galt lange Zeit als unspielbar. Nach Beethovens Tod wagte sich erst wieder Franz Liszt (1811-1886) an eine öffentliche Aufführung, der nicht nur ein berühmter Komponist, sondern auch einer der größten Klaviervirtuosen seiner Zeit war.

Das Hörbeispiel oben unter dem Titelbild gibt einen Ausschnitt aus dem dritten Satz der bekannten Mondscheinsonate wieder, deren Beiname übrigens gar nicht vom Komponisten selbst stammt, sondern erst nach Beethovens Tod vom Schriftsteller Ludwig Rellstab hinzugefügt wurde. Auch wenn diese 14. Klaviersonate (Opus 27 Nr. 2) schon für Beethovens Geschmack zu viel gespielt wurde („Ich habe doch wahrhaftig Besseres geschrieben“), kann sie von ihrer musikalischen Faszination nichts einbüßen und fesselt jedesmal aufs Neue.

Vom ersten bis zum dritten Satz wird sie immer schneller und verdichtet sich in Takt 163-166 des letzten Satzes zu einem einzigen Cluster, als würde sie gegen einen Baum fahren. Schon zu Beginn der Sonate in Takt 3 taucht der überraschende, entrückte neapolitanische Sextakkord auf (D-Dur in cis-moll), der das gesamte Stück unverkennbar und einzigartig macht.

Die Pathétique Opus 13 von 1800/1801 ist der Wendepunkt in der Musikgeschichte von der Klassik zur Romantik, so kann man wohl sagen. Das einleitende Thema in c-moll „Grave“, das dem im klassischen Sinn eigentlichen Beginn der Sonate vorangestellt ist, taucht im ersten Satz zwischendurch immer wieder auf. Die damals übliche (erst später so benannte) Sonatenhauptsatzform gerät aus den Fugen und wird bei Beethoven zu etwas völlig Neuem, einer eigenen Form. „Sonata quasi una Fantasia“ hat er seiner späteren Sonate Opus 27 Nr. 2 (Mondscheinsonate) als Untertitel hinzugefügt, ein Anhaltspunkt für diesen zunehmenden Prozess.

Wer dringend gute Laune braucht, dem kann man nur die Waldsteinsonate Opus 53 empfehlen! „Wie eine Büffelherde“ reiten die ersten Akkorde in C-Dur heran und fesseln den Zuhörer von der ersten bis zur letzten Note. Im dritten Satz ab Takt 465 ist wieder einmal eine Stelle zu finden, die für Laien unüberwindbar ist: Oktav-Glissando in der rechten und linken Hand. Auch das hat es bis dahin noch nicht gegeben. Am besten einfach zurücklehnen, anhören und glücklich sein.

Die Appassionata Opus 57 ist ein unbeschreibliches Feuer der Leidenschaft und neben der ersten Klaviersonate Beethovens (Opus 2 Nr. 1, s.o.) seine einzige in f-moll. Das einleitende Thema des ersten Satzes ist sehr einprägsam und erzeugt schon in den ersten Takten eine hohe Spannung, die sich dann erstmalig in Takt 17 und später immer wieder auf’s Neue in einem heftigen Donner entlädt. Diese Stellen wirken erschreckend und befremdlich, so als würde der Pianist plötzlich mit aller Wucht einfach auf die Tasten hauen – einzigartig! Der zweite Satz ist wohl – neben dem Mittelsatz der Pathétique – einer der schönsten langsamen Sätze, die jemals geschrieben wurden. Der dritte Satz schließlich ist eine atemberaubende Achterbahnfahrt, in der der Zuhörer vor Spannung schier zerrissen wird, und endet in einem Inferno. Unbedingt anhören!

Beethovens 32. Sonate Opus 111 in c-moll lässt sich nur schwer in Worte fassen. Am besten beschreibt es wohl die Romanfigur Wendell Kretzschmar in Thomas Manns „Doktor Faustus“. Der junge Mann ist so um die 30 und gibt dem jungen Adrian Leverkühn Klavierunterricht. Außerdem hält er begeisterte Vorträge über Musik, vor allem über Beethoven, wobei ihn allerdings sein heftiges Stottern behindert (Kapitel VIII). Das markante Thema im ersten Satz der Sonate (C-Es-H) pirscht sich heran, wird drängend und geradezu brutal. Die Arietta, der zweite und letzte Satz, steht in C-Dur und ist eine Variation von großer Schlichtheit und Schönheit. Die Notenwerte werden immer kürzer und damit nimmt das Tempo stetig zu. Beethoven wäre nicht Beethoven, würde er nicht überraschend einen Boogie-Woogie unterbringen. Dieser wurde eigentlich erst später, Anfang des 20. Jahrhunderts, in den USA erfunden. Beethovens letzte Sonate endet mit einer langen Triller-Sequenz in absoluter Einsamkeit und Schönheit – so als wenn sich das Universum endgültig auflöst, am Ende der Zeit.

Das war aber keinesfalls das Ende für Beethoven! Er hätte wahrscheinlich noch weitere Klaviersonaten komponiert, wäre er nicht im Alter von 56 Jahren, am 26. März 1827, trotz vieler Krankheiten für ihn selbst doch unerwartet, verstorben. Zu seiner Beerdingung auf dem Währinger Ostfriedhof in Wien kamen über 20.000 Menschen.

Hörenswert:

32 X Beethoven auf BR Klassik

Beethoven Complete Piano Sonatas

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Jochen Wunder

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JOCHEN